Eine Kirche, die jeder versteht

23.01.2016

Der Wiederaufbau der Walldorfer Kirchenburg ist mehr als eine Arbeit in Stein und Holz. Hier wird zugleich ein Konzept umgesetzt, welches der Gemeinde zu neuem Aufschwung verhelfen und aus einem biederen Gotteshaus eine Erlebniskirche machen soll, eingebettet in einem Reich aus Pflanzen und Tieren. Im Interview stellen Walldorfs Pfarrer Heinrich von Berlepsch und Karsten Merkel, leitender Architekt des Kirchenwiederaufbaus, vor, was im Zuge dessen in den kommenden Monaten alles passieren wird. Eine Antwort gibt es auch auf die Frage, ob das Krippenspiel 2016 wirklich schon in der Kirche durchgeführt werden kann.

 

Walldorfs Pfarrer Heinrich von Berlepsch und Architekt Karsten Merkel vor einem Modell der Kirche mit einer Ansicht auf die neu zu gestaltende Kirchenorgel, rechts neben dem Haupteingang. Der Auftrag zur Herstellung des Instruments ist ausgelöst. Die neue Orgel wird aber erst nach Fertigstellung des Kircheninneren eingebaut.    Foto: O. Benkert

 

Seit dem verheerenden Kirchenbrand im Jahr 2012 sind fast vier Jahre vergangen. Befinden Sie sich mit dem Projekt Wiederaufbau jetzt auf der Zielgeraden?

 

Architekt Karsten Merkel: Wir sind seit Januar 2013 auf der Zielgeraden – das ist eine lange Zielgerade.

Pfarrer Heinrich von Berlepsch: Wir errichten hier einen Kulturbau neu und keine Industrieanlage. Wir haben keinen festen Termin für die Fertigstellung. Während der Bauphase haben wir bemerkt, dass es gut ist, Ideen auch reifen zu lassen. Ziel soll es sein, eine Kirche wiederzuerrichten, welche die Walldorfer als die ihre erkennen und ins Herz schließen. Eine solche Kirche muss reifen. Wir suchen das Beste der Kirche, bauen nicht im Eiltempo sondern ergebnisorientiert.

 

Was haben Sie geschafft?

Merkel: Der erste Abschnitt war die Beräumung der Brandschäden und die Notsicherung. Bauabschnitt zwei war der Rohbau mit statischer Wiederherstellung des Mauerwerks, neuem Dachstuhl und Wiederaufbau des Kirchturms. Im letzten Jahr liefen verschiedene Arbeiten am und im Kirchturm und in der Kirche. Parallel dazu haben wir den neuen Leitergaden über dem großen Tonnengewölbe wieder aufgebaut.

 

Ein anderer Schwerpunkt war der Wiederaufbau der fünf Türme.

 

Merkel: Beginnend vom Leitergaden aus haben wir mit dem Nordturm angefangen, den wir modifiziert mit alten Balken des verbrannten Kirchturmdachstuhls wieder aufgebaut haben. Wir nennen ihn den Pavillon des verkohlten Holzes.

 

Von Berlepsch: Sachlich sind das alles Sicherungsarbeiten. Die drei Gaden neben dem Kirchenschiff haben auch einen neuen Schliff bekommen.

 

Merkel: Ja, die Gaden, die über dem Mittelturm an der Ostseite stehen, sind komplett saniert worden und dienen zusammen mit dem Turm als Technikgebäude. Dort kommt der Wärmetauscher hinein. Wir haben fünf Erdbohrungen auf dem Gelände vorgenommen, um Gemeindehaus und Kirche künftig über das Gerätehaus mit Erdwärme versorgen zu können. Es war eine bewusste Entscheidung zu einer ökologischen Heizvariante, die langfristig auch eine Kostenersparnis bringen wird.

 

Von Berlepsch: Den Ostturm krönt das neue Storchennest, 2015 errichtet. Es ist begehrt. Bis zu sieben Störche haben wir einmal schon in unmittelbarer Umgebung gesichtet. Das Storchennest ist Teil unserer Biotopkirche. Mit der Herstellung der Türme wollten wir im Außengelände Tatsachen schaffen, die so schnell wie möglich eine Besiedlung der Flora und Fauna wieder zulassen.

 

Demnach ist auch die Sanierung der Wehrmauer abgeschlossen?

Merkel: Teils nach kompletter Demontage ist die Mauer wieder aufgebaut worden, teils reichte ein Verfugen. Zwei Drittel der Mauer sind fertiggestellt.

 

Die anhaltende Bauzeit ist vor allem ein Zeichen dafür, dass auch Geld zur Verfügung steht. Was ist bislang investiert worden und wie viele Euros könne Sie in den kommenden Monaten noch ausgeben?

 

Von Berlepsch: Wir können unsere Arbeiten bis zum Ende hin gut ausführen. Sie sind durch die Versicherungsleistungen gut gedeckt und wir haben für Sonderleistungen auch noch Spenden zur Verfügung. Das heißt, die Finanzierung ist bis zum Ende der Baumaßnahme gesichert.

 

Wollen Sie keinen Zahlen nennen oder können Sie nicht?

Von Berlepsch: Ich möchte keine nennen. Es geht um unverschämt viel Geld.

 

Ist das ein Glücksfall, dass Sie nicht auf jeden Cent schauen müssen?

Von Berlepsch: Das ist vor allem das Ergebnis einer guten Planung mit allen Beteiligten. Nach dem Versicherungsrecht steht uns ein Ersatzbau zur Verfügung, der mit Geld untermauert worden ist.

 

Das Krippenspiel 2016 wird in der Walldorf Kirche aufgeführt. Das haben Sie, Herr Pfarrer, im Sommer zur Gadeneinweihung gesagt. Stehen Sie auch ein halbes Jahr später noch zu Ihrem Wort?

 

Von Berlepsch: Ich habe es zum jüngsten Krippenspiel wieder gesagt. Zum Ende des Jahres werden wir in der Kirche dichte Fenster und einen Fußboden haben. Das versetzt uns in die Lage, ein Krippenspiel durchzuführen. Die Kirchweihe wird voraussichtlich 2017 stattfinden.

 

Merkel: Und das ist auch realistisch.

 

Was wird 2016 mit Blick auf die Innengestaltung der Kirche alles passieren?

 

Von Berlepsch: Aktuell läuft der Künstlerwettbewerb für die Gestaltung der Bleiglasfenster. Die Vorschläge sollen bis Ende März vorliegen. Daraus wird der beste ausgesucht.

 

Gestalterisch sind die Fenster ähnlich wie die Glocken ein großes Thema. Sie sind ein Spezifikum der neuen Kirche, weshalb sie eine eigene Rolle im Kunstkonzept bekommen. Ich möchte erreichen, dass Kinder diese Gestaltung verstehen und begeistert mit dem Finger darauf zeigen. Es sollen sprechende Fenster werden, die schnell verstanden werden und keine komplizierten liturgischen Stellungnahmen abgeben.

 

Merkel: Wir haben uns im letzten Jahr die Ausstellung „Glanzlichter“ im Naumburger Dom angeschaut. Sie hat uns die Palette der Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Da haben wir acht Künstler ausgewählt, unter ihnen ist beispielsweise auch ein Autist, der eine ganze andere Betrachtungsweise hat.

 

Die Entscheidung zur Orgel fiel noch vor den Fenstern ...

Von Berlepsch: Das war ein großes Stück Arbeit, denn an der Orgel hängt die gesamte Innengestaltung. Über ein halbes Jahr haben wir uns in einem Team mit der Innengestaltung beschäftigt.

 

Merkel: Ähnlich wie jetzt bei der Fenstergestaltung haben wir im letzten Jahr ein Kolloquium mit vier Orgelbauern durchgeführt, die uns nach unseren Vorgaben einen Vorschlag zur Orgelgestaltung unterbreitet haben.

 

Dann haben wir uns alles genau angeschaut und einen Sieger gekürt. Den Zuschlag erhielt der Mitteldeutsche Orgelbau. Der Auftrag ist ausgelöst und die Detailabstimmungen laufen. Für die gesamte Innenarchitektur zeichnet übrigens das Architekturbüro Osterwold und Schmidt aus Weimar verantwortlich.

 

Wann kommt die neue Orgel?

Von Berlepsch: Ein Jahr nach Kirchenfertigstellung, weil sie ein bestimmtes Raumklima braucht.

 

Merkel: Wenn wir Anfang oder Mitte 2017 fertig sind, dann kommt die Orgel 2018.

 

Der Fußboden wird aus Sandstein gestaltet. Wie wird die Möblierung aussehen?

Von Berlepsch: Der Fußboden wird in Form eines Puzzles gestaltet und die Spuren der archäologischen Funde im Kircheninnenraum abbilden.

 

Merkel: Wir haben einen Aufmaßplan von allen Fundstätten in der Kirche. Die großen Fundstätten, wie die drei Grüfte, wollen wir durchscheinen lassen. Der Besucher erfährt bei Punkt eins im Altarraum beispielsweise, dass sich hier das Grab mit dem Goldring befindet. Es wird also eine Spurensuche mit Hilfe des Fußbodens im Kirchenraum geben.

 

Von Berlepsch: Die Idee stammt aus der Arbeit mit Kindern.

 

Was ist aus dem Goldring, besser bekannt als Hochzeitsring, und der Idee, diesen für Eheschließungen nachmachen zu lassen, geworden?

 

Von Berlepsch: Wir haben niemanden gefunden, der dies handwerklich wie gewünscht umsetzen kann. Wir könnten nur im 3D-Verfahren ein Muster erstellen. Die Idee steht, aber die praktische Umsetzung ist offen. Anfragen gab es schon. Im Augenblick haben wir aber anderes zu tun.

 

Wie beispielsweise die Möblierung der Kirche ...

Merkel: Das größte Möbelstück ist in seiner Kubatur die Orgel. Das wird hergestellt. Nächstes Ausstattungsstück ist der Altar mit einem Stehpult und einem Taufbecken. Wir hatten in der Kirche sechs Epitaphien. Davon lassen wir vier Stück wieder rekonstruieren, die einen Platz bekommen und eingepasst werden müssen.

 

Von Berlepsch: Dazu planen wir eine Bestuhlung, die unter anderem eine Kirchennutzung in zwei Richtungen ermöglicht. Wir tasten uns entsprechend der Rangordnung an Fußboden, Orgel, Fenster und Decke langsam heran und werden schauen, was zu diesen Teilen passt. Wir möchten im Inneren eher spartanisch bleiben. Das Wesentliche der Kirche ist die Flexibilität.

 

Biotopkirche, Radfahrerkirche, Kinderkirche, Fensterkirche, Kirchenburg für Kletterfreunde – wie soll die Walldorfer Kirche der Zukunft aussehen?

 

Von Berlepsch: Der Kirchenbrand ist für uns eine Botschaft und ein Auftrag. Wir wollen nicht bei der Wiedererrichtung des Gebäudes stehen bleiben.

 

Deshalb haben wir gesagt, wir brauchen parallel dazu ein Gemeindeaufbaukonzept. Darin hat uns auch der sichtbare Rückgang der Volkskirche bestärkt, der nicht nur der demografischen Entwicklung geschuldet ist, sondern auch in direktem Zusammenhang mit sich verändernden Menschen, deren Selbstverständnis, Bedürfnissen und Lebensformen steht. Wir wollen versuchen, die christliche Botschaft und Lebensart in den Alltag möglichst vieler Menschen zu übersetzen und ihnen dazu entsprechende Angebote unterbreiten.

 

Warum genügt eine einfache Kirche für Gläubige, wie sie früher einmal war, heute nicht mehr?

Von Berlepsch: Es wird eine einfache Kirche, die die Menschen abholt, vom Kind bis zum Greis. Eine einfache Kirche mit Veränderungen und Ergänzungen. Die alte Kirchentradition ist uns in einigen Punkten zu kompliziert, um sie Menschen so anzubieten. Wir wollen eine Kirche, die jeder versteht, die gelebt werden kann und offen für alle ist. Es fließt beim Wiederaufbau sehr viel Geld. Ich möchte jeden Euro so einsetzen, dass damit möglichst viel Freude und Gotteserlebnis erfahren werden kann. Wir bauen übrigens auch nicht für die Vergangenheit, sondern für die Menschen von morgen.

 

Merkel: Die Walldorfer Kirchenburganlage war schon immer eine andere Welt. Man muss sie erleben. Dieses spezielle Gefühl, welches sie vermittelt, wollen wir weiter ausbauen als Ort der Besinnung, als Ort zum Wohlfühlen.

 

Die Resonanz zum letzten Tag des offenen Denkmals hat gezeigt, dass den Menschen die Vielfalt, die ihnen auf der Kirchenburg geboten wird, gefällt. Hat Sie das in Ihrem Tun bestärkt?

 

Von Berlepsch: Ja. Wir haben den Tag auch ganz bewusst unter den Slogan „Mit Händen arbeiten“ gestellt. Diesen Aktivteil haben die Kinder sehr schön aufgegriffen. Wir werden dies fortführen. Hier in der Burg soll künftig zum Beispiel auch die Feuerwehr ihre Ausbildungen machen, hier soll man zelten und auch sein Brot in einem Ofen backen können. Es gibt auch eine Anfrage vom Alpenverein, der das Areal nutzen möchte. In all diesen Bereichen können wir missionarisch tätig sein.

 

Die Archäologen waren lange Zeit vor Ort aktiv. Ist Ihre Tätigkeit abgeschlossen?

Von Berlepsch: In Walldorf nie.

 

Was waren die spektakulärsten Funde?

Merkel: Wir haben über 300 archäologische Funde in den letzten drei Jahren in der Kirche und in den Außenanlagen gemacht und haben 120 sogenannte geordnete Grabstätten. Das heißt, wir haben um die 120 Skelette gefunden. Daneben haben wir alte Bebauungsstrukturen ausgegraben, die per archäologischem Bodenradar in diesem Jahr noch genauer untersucht werden. Eine Präsentation zu alledem wird es am 16. Februar um 19 Uhr im Gemeindezentrum Kressehof geben. Den Vortrag hält Dr. Seidel vom Denkmalamt.

 

Von Berlepsch: Ich habe Herrn Seidel auch gebeten, jemanden zu suchen, der vielleicht sogar mal eine Dissertation darüber schreibt, denn es ist alles sehr umfangreich und sensationell. Am Ende sollte ein Buch entstehen. Voraussetzung dazu ist die wissenschaftliche Aufarbeitung, die sich auch Dr. Seidel wünscht.

 

Und wer soll ein solches Buch schreiben?

Von Berlepsch: Das wird sich zeigen. Ich sehe es als Öffentlichkeitsarbeit der regionalen Denkmalpflege.

 

Herr Pfarrer, wenn der Wiederaufbau der Kirchenburg abgeschlossen ist, werden Sie gehen, haben Sie kürzlich gesagt. Nun werden sich sicher einige Walldorfer wünschen, dass der Aufbau ewig dauern möge. Aber mal im ernst, wann werden Sie Walldorf verlassen?

 

Von Berlepsch: Im Sommer 2019. Da habe ich mein Rentenalter erreicht.

 

Ist der Wiederaufbau dann wirklich abgeschlossen?

Von Berlepsch: Der Wiederaufbau ist eher abgeschlossen. Ich darf den Start mit all seinen neuen Möglichkeiten also noch mit anschieben. Ganz besonders freue ich mich auf das erste Kletterlager mit Jugendlichen an der Burgmauer. Mit Spannung erwarte ich das vorher stattfindende internationale Bildhauersymposium, welches die Mehmelser Holzbildhauerin Eva Skupin organisieren und betreuen wird.

 

Im Rahmen dieses Künstlerlagers sollen im Sommer 2017 die Restbestände vom Brand in Form von historischen Balken und Steinen aufgearbeitet und für die Kirchenburg nutzbar gemacht werden. Das ist auch ein Aspekt der Öffentlichkeitsarbeit. Dazu kommt aus jedem Erdteil ein Künstler.

 

Ist für Sie als Pfarrer bereits ein Nachfolger im Gespräch?

Von Berlepsch: Seit Monaten wird in Walldorf heftig über meine Nachfolge diskutiert. Ich gehe fest davon aus, dass der Gemeindekirchenrat konkret auf die Suche nach einem Nachfolgerkandidaten gehen wird, der zu unserem Gemeindeaufbaukonzept der Erlebniskirchenburg passt und genauso zum neuen vereinigten Kirchspiel Walldorf-Metzels.

 

Beschlusslage des Kirchenkreises ist eine Ausschreibung der neuen Pfarrstelle für das Kirchspiel. Das warten die Walldorfer nicht ab, weil sie es nicht den Zufall überlassen wollen. Sie gehen aktiv in die Spur und haben schon genaue Vorstellungen für das Ausschreibungsprofil. Sie werden sich auch über kurz oder lang mit den Nachbargemeindekirchenräten treffen und über die Details sprechen.

 

Bild zur Meldung: Eine Kirche, die jeder versteht